[2013]

Kreuzung im offenen Raum

Andreas Denk

„RADO“ ist eine interaktive Versuchsanordnung im öffentlichen Raum, die Martin Pfeifle 2011 für die Siedlung an der Luitfridstraße im Bonner Stadtteil Endenich entwickelte.[1] Gegeben sind: 64 Würfel in einer Schichtung von schwarzen und weißen Neopolen-Platten mit einer Kantenlänge von 50 mal 50 Zentimetern, eine Wiese sowie eine namen- und zahllose Gruppe von Akteuren. Zu Beginn liegen die Würfel in einer Formation von acht mal acht Kuben auf dem Rasen. Schwarze, weiße und gestreifte Flächen zeigen abwechselnd nach oben. Sobald die Akteure der Formation ansichtig werden, beginnen sie, mit spielerischem Interesse die Anordnung der Würfel zu verändern.

 

Die kunsttheoretische Position der Arbeit richtet sich zwischen zwei Polen ein, die grundlegend für den erweiterten Kunstbegriff des 20. Jahrhunderts gewesen sind. Die legendäre Absage Marcel Duchamps an die Malerei und die Bildhauerei zugunsten des Schachspiels ist eine dieser beiden Schlüsselpositionen. Obwohl der französische Künstler eine solche Abkehr niemals selbst formuliert hat, steht fest, dass er ab 1922 – bis etwa 1935 - mehr Zeit mit dem „Spiel der Könige“ (und Damen) verbrachte als mit der Anfertigung oder Auswahl von Artefakten zuvor.[2] Die Beweggründe Duchamps, sich von der bild- und formgebenden Kunst, die ihm immerhin die neuen Werktypen des „ready-mades“, der „mixed media“, der Installation und vielleicht sogar der Performance verdankt[3], einem konzeptuellen „Denksport“ zuzuwenden, hängen eng mit einem erkenntnistheoretischen Interesse zusammen. Über die Feststellung, dass selbst die konstruktivistische Malerei nur behelfsmäßig in der Lage ist, Zeit und Raum abzubilden, gelangte Duchamp zur Benennung und Konstruktion von ready-mades, die „toute faite“ handwerklich gefertigte Gegenstände sind. Sie beanspruchen in ihrem wesenhaften Dingsein an sich Raum und Zeit und lassen sich damit gewissermaßen als Schnitte durch die vierte Dimension interpretieren. Doch erst im Schach verkörperte sich - in Duchamps fortschreitender Analyse - die höchste Ebene der Darstellbarkeit vierdimensionaler Phänomene. Die räumlich-zeitliche Konzeption des Spiels ermöglicht die strategische und konzeptuelle Analyse der sich verändernden zeit-räumlichen Verhältnisse und Beziehungen zwischen mehreren Gegenständen. So schien Duchamp eine schöpfungsähnliche Konzeption kreativer menschlicher Handlung möglich - jenseits von Zufällen, Fehlern und Eventualitäten, wie sie anderen, auch seinen eigenen, selbst entwickelten „kreativen Akten“ zwangsläufig innewohnen.

 

„Das Schweigen des Marcel Duchamp wird überbewertet“: Dieser Titel einer Aktion von Josef Beuys im Jahre 1964 kennzeichnet den zweiten Pol, der für Pfeifles „RADO“ rahmenbildend ist. Beuys’ handlungsorientierte Kunst ist der vielleicht vehementeste Versuch einer Überwindung des Bedeutungsverlusts bildgebender Medien, den Duchamps radikale Konzeptualisierung in Gang gesetzt hatte. Beuys formulierte mit seinem Postulat einer „sozialen Plastik“ auch die Hoffnung auf ein Remedium gegen die erkenntnistheoretische Hilflosigkeit und die gesellschaftliche Wirkungslosigkeit des traditionellen Kunstbegriffs, die offenbar auch Duchamp umgetrieben hat. Indem der Betrachter oder Benutzer von Objekten und Installationen gleichermaßen zum Sender wie zum Empfänger von Lebensenergie werden sollte, stellte Beuys jedoch dem künstlerischen Ausdruck, den Duchamp mit „ready mades“ und  Schachspiel lediglich ironisch in Frage stellte, einen grundsätzlich anderen, neuen Werkbegriff entgegen. Ihm folgend, entsteht das eigentliche „Werk“ erst dann, wenn die bisher als „Betrachter“ aufgetretenen Personen sich körperlich, zumindest aber geistig an seiner Fertigstellung beteiligten, indem sie gewissermaßen den Energiefluss der gegebenen Versuchsanordnung in Gang setzten. Insofern werden sie – anders als bei der individualistischen zeitlich-kinetisch-plastischen Handlung Duchamps – zu Akteuren in einem chemisch-physikalischen Experiment.

 

Martin Pfeifle hat – dreißig Jahre später - mit „RADO“ einen kombinatorischen Weg der Auseinandersetzung mit diesen Schlüsselpositionen der Moderne gesucht. „RADO“ ist einerseits eine spielerische, vielleicht ironische Paraphrase auf das Schachspiel von Marcel Duchamp, andererseits aber auch eine ernsthafte Versuchsanordnung, die eine gewisse Nähe zu den partizipativen Versuchen von Josef Beuys besitzt. Dabei hat Pfeifle sowohl Duchamps Konzeptualisierung wie auch Beuys’ Spiritualisierung vermieden.

 

Zunächst hat Pfeifle mit der Urkonstellation von „RADO“ offenbar eine Analogie zum Schachbrett gesucht, dann aber die fixen Regeln des Schachs aus den Angeln gehoben, ja, umgekehrt. Indem er die im Schach eindeutig definierte hierarchische Beziehung zwischen Spieler, Spielfeld und Figuren aufgehoben hat, wird eine ständige Veränderung des Spiels und seiner Regeln möglich: Die 64 schwarz-weiß gestreiften Kuben entsprechen zwar den acht mal acht Feldern eines Schachbretts, doch sind sie transportabel und in völlig unterschiedlicher Weise wieder zusammenzufügen.[4] Zugleich wird die Grenze zwischen Spielern und Figuren aufgehoben, so dass sich die durch „RADO“ bewirkte räumliche Szenerie als Schachspiel mit lebendigen Akteuren zeigt, die letztlich ihr gegebenes Spielfeld demontieren und in immer neue Konstellationen versetzen.

 

Die Spieler oder Akteure, die sich der Kuben, also des „Spielfelds“ bemächtigen, indem sie es umstellen und zu völlig anderen Konfigurationen umbauen, sind genau so „Figuren“ im Spiel, weil sie beständig in und mit der gerade neu entstandenen oder entstehenden Installation interagieren. Andersherum werden die „Figuren“, die auf dem dreidimensionalen Spielfeld handeln, immer wieder zu Spielern, indem sie die Kuben vorsätzlich, planmäßig und strategisch weitsichtig in neuen Raumkonstellationen arrangieren. Auf diese Weise wechseln „Spieler“ wie „Figuren“ zu jedem Zeitpunkt ihre Rolle und nehmen die jeweils andere an. Jede neue Konstellation ermöglicht ein anderes Spiel mit neuen Regeln, jede gegebene Spielsituation kann jederzeit durch einen oder mehrere Spieler „über den Haufen geworfen“ werden. 

 

Dabei können und müssen je nach Spielsituation Konfliktlösungen und Gruppierungsformen ausgehandelt werden. Die Bildung von gemeinsam arbeitenden Teams und rivalisierenden Gruppen ist möglich und wahrscheinlich, wie sich im Laufe der Zeit erwiesen hat.[5] Zu jedem Zeitpunkt ist eine neue Organisationsform möglich (die Art und Weise, ob und wie sich die Spieler organisieren) und ein neues Organisationsziel (die Figur, die die Spieler errichten oder zerstören). Dabei spielen – anders als beim Schach - Plan und Zufall eine gleich große Rolle: Die Kubenanzahl und ihre mögliche Positionierung im Raum der Siedlung erlaubt unendlich viele Möglichkeiten. Die Zahl der erprobten Möglichkeiten und die Dauer des Experiments liegt allein im Bereich der Anzahl, der Phantasie und des Interesses der Spieler/Akteure und ihrer Intensität. 

 

Pfeifles kluge Paraphrase auf die künstlerische Setzung Marcel Duchamps enthüllt vielleicht weniger die schöpferähnliche konzeptuelle Fähigkeit des Menschen als vielmehr seine Möglichkeit zur Selbstverantwortung und Selbstorganisation. Insofern hat „RADO“ auf leichte, vielleicht in der Konsequenz sogar unerwartete Weise die Funktion einer „sozialen Plastik“ bekommen. So enthüllt sich eine Wirkungsweise der zeitgenössischen Kunst, die sich einer rein formalen, phänomenologischen Beurteilung längst entzogen hat: In Martin Pfeifles Endenicher Arbeit kreuzen sich das Postulat der Freiheit des Handelns, das im Werk von Joseph Beuys ausgedrückt ist, mit der Ideenwelt Marcel Duchamps, der in der Freiheit des Denkens den höchstmöglichen Ausdruck des Menschseins fand.

 
[1] Dieser Text ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung von: Verf.: Auf der Lichtung. Marcel Duchamps Schachspiel und Martin Pfeifles „RADO“, in: Martin Pfeifle. RIZA. Hrsgg. von Gisela Clement und Michael Schneider, Bonn 2012, S. 36-45. S.a.: Martin Pfeifle. RADO. Hg.: MIWO Gesellschaft mbH & Co. KG, Bonn, Bonn 2011 (http://www.miwo.eu/pdf/katalog_pfeifle.pdf, letzter Zugriff am 15. März 2013). 

[2] Vgl. zuletzt: Nauman, Francis M./Bailey, Bradley/Shahade, Jennifer: Marcel Duchamp. The Art of Chess, New York 2009. Duchamp selbst hat mit seinem radikalen Freiheitsbegriff diesen Bruch in seinem Schaffen offenbar anders bewertet: „I never abandonend painting for chess. (...) that is a legend. (...) Just because a man starts to paint doesn’t mean he has to go on painting. He isn’t even obliged to abandon it.“ (zit. n.: Gauss, Ulrike (Hg.): Marcel Duchamp. Interviews and Statements, Stuttgart 1992, S. 86, übersetzt aus: Liberman, A.: The Artist in his Studio, London 1960, S. 57.)

[3] Vgl.: Molderings, Herbert: Fahrrad-Rad und Flaschentrockner. Marcel Duchamp als Bildhauer, in: Marcel Duchamp. Respirateur. Hg.: Kornelia von Berswordt-Wallrabe, (Kat.) Staatliches Museum Schwerin, 27. August bis 19. November 1995, Ostfildern 1995, S.119-144.

[4] Pfeifle erklärt den Namen „RADO“ mit dem ähnlich schichtweise komponierten Lakritzkonfekt („COLOR-RADO“) eines bekannten Bonner Süßwarenherstellers.

[5] S. Martin Pfeifle. RADO (wie Anm. 1).

RADO is an interactive public space experiment developed by Martin Pfeifle in 2011 for the Luitfridstraße housing estate in the Bonn district of Endenich.[6] Its components comprise: sixty-four cubes of layered black and white Neopolen tiles with an edge length measuring 50 x 50 centimetres, a meadow, as well as a nameless and unlimited number of actors/participants. Initially, the cubes are arranged in a square measuring eight by eight cubes on a lawn; black, white and striped surfaces face upwards alternately. As soon as the actors/participants behold the layout, they start to change the arrangement of the cubes with playful interest.

 

The artwork’s theoretical position is situated between two poles, both of which are fundamental to the extended concept of art in the twentieth century. Marcel Duchamp’s legendary rejection of painting and sculpture in favour of chess is one of these key positions. Although the French artist never actually renounced them himself, it is nevertheless true that, from 1922 until about 1935, he spent more time with the “Game of Kings” (and Queens) than he did with the preparation or selection of artefacts.[7] Duchamp’s motives for leaving behind pictorial and sculptural art – which after all had been enriched by him with new types of artworks, such as the “readymade”, “mixed media”,[8] the installation and even performance – and duly turning towards a conceptual “intellectual sport” are closely connected to a broader epistemological interest. Via the realisation that even constructivist painting is only provisionally able to model time and space, Duchamp came upon the naming and design of readymades that are in themselves toute faite handcrafted items. They lay claim to space and time in their intrinsic status as things-in-themselves and can thus be interpreted as a sort of cross section of the fourth dimension. However, according to Duchamp’s progressive analysis, it is only in chess that the highest plane of the representation of four-dimensional phenomena can be embodied. The spatial-temporal conception of the game provides a strategic and conceptual analysis of changing time-space relationships, as well as relationships between multiple objects. In this way, a creator-like conception of creative human action seemed possible to Duchamp, beyond chance, error and contingency, in the way that they necessarily inhere in other – including his own self-generated – “creative acts”.

 

The silence of Marcel Duchamp is overrated: the title of an action by Joseph Beuys from 1964 marks the second pole which provides the framework for Pfeifle’s RADO. Beuys’s action-oriented art is perhaps the most vehement attempt to overcome the loss of importance of pictorial media, which Duchamp’s radical conceptualisation had originally initiated. With his postulate of “social sculpture”, Beuys also formulated the hope of a remedy for the epistemological helplessness and social ineffectiveness of the traditional concept of art, which evidently also concerned Duchamp. By making the viewer or user of objects and installations become both the transmitter and recipient of life energy, Beuys countered artistic expression – which Duchamp had ultimately challenged ironically in both his readymades and chess – with a fundamentally different, new concept of the artwork. According to this concept, the actual “work” only arises when the persons previously acting as “observers” physically, or at least mentally, participate in its completion by initiating the energy flow of the given experiment to a certain extent. Thus, they become actors in a chemical-physical experiment in contrast to Duchamp’s individualistic, temporal-kinetic sculptural actions.

 

Thirty years later, Martin Pfeifle has sought a combinatorial way of addressing these key positions of modernity with his work RADO. RADO is not only a playful, perhaps ironic, paraphrase of Marcel Duchamp’s chess playing, but is, on the other hand, also a serious experiment, which enjoys a certain proximity to Joseph Beuys’s participatory experiments. In so doing, Pfeifle has managed to avoid both Duchamp’s conceptualisation and Beuys’s spiritualisation.

 

Initially, Pfeifle was looking for an analogy to the chessboard for the original arrangement of RADO, but then turned the rules of chess upside down, indeed, reversed them. By suspending the clearly defined, hierarchical relationship between players, board and pieces in chess, a constant change in the game and its rules is possible: the sixty-four black and white striped cubes correspond to the eight by eight squares of a chessboard, but they are portable and can be reassembled in completely different ways.[9] At the same time, the boundary between players and pieces is also suspended, so that the spatial scenario initiated by RADO manifests itself as a game of chess with living pieces or actors who ultimately dismantle their given board and constantly recreate different constellations.

 

The players or actors who take possession of the cubes, that is to say the “chessboard” by redirecting it and adapting it for entirely different configurations, are equally “pieces” in the game, because they constantly interact with the newly arisen or arising configurations. From another perspective, the “pieces/actors” that engage with one another on the three-dimensional board, repeatedly become players by deliberately, systematically, strategically and far-sightedly rearranging the cubes into new spatial configurations. In this way, both “players” and “pieces” change their roles at any given moment and duly adopt their respective counter roles. Each new arrangement initiates another game with new rules, and any given situation in the game can be “overturned” at any time by one or more players.

 

In so doing, conflicts and group configurations can and must be negotiated depending on the given situation in the game. The formation of joint working teams and rival groups is both possible and probable, as has been shown over time.[10] At any point, a new organisational form is possible (i.e. the manner in which the players organise themselves, whether indeed they do so or not) and a new organisational goal (the figure that the players build or destroy). Thus, planning and chance – unlike in chess – play an equal role: the number of cubes and their possible positioning within the environs of the housing estate allow endless possibilities. The number of tested options and the duration of the experiment lie solely in the number, imagination and interest of the players/actors and their respective intensity towards the game.

Pfeifle’s clever paraphrase of Marcel Duchamp’s artistic setting reveals perhaps less about the creator-like conceptual ability of people and more about their propensity for self-responsibility and self-organisation. To that extent, RADO has taken on the function of a “social sculpture” in a light and consequentially even unexpected fashion. Thus, a mode of action and effect of contemporary art, which has long since eluded a purely formal, phenomenological assessment, duly reveals itself: in Martin Pfeifle’s work in Endenich, the postulate of freedom of action, which is expressed in the work of Joseph Beuys, is crossed with Marcel Duchamp’s world of ideas, which, for its part, found the highest expression of the human condition in the freedom of thought.


[6] This text is a revised and edited version of the essay: Andreas Denk, “Auf der Lichtung. Marcel Duchamp’s Schachspiel und Martin Pfeifle’s RADO”, in Gisela Clement and Michael Schneider, eds., Martin Pfeifle. RIZA., (Bonn, 2012), pp. 36-45. Cf. also Martin Pfeifle. RADO, ed., MIWO Gesellschaft mbH & Co. KG, Bonn, (Bonn, 2011). (http://www.miwo.eu/pdf/katalog_pfeifle.pdf, last accessed March 15, 2013).

[7] Cf. Francis M. Nauman, Bradley Bailey and Jennifer Shahade, Marcel Duchamp. The Art of Chess (New York, 2009). Duchamp himself, with his radical concept of freedom, clearly seems to have evaluated this break in his creative output differently: “I never abandoned painting for chess. (…) that is a legend. (...) Just because a man starts to paint doesn’t mean he has to go on painting. He isn’t even obliged to abandon it.” (Quoted from Ulrike Gauss, ed., Marcel Duchamp. Interviews and Statements (Stuttgart, 1992), p. 86, translated from A. Liberman, The Artist in his Studio (London, 1960), p. 57.

[8] Cf. Herbert Molderings, “Fahrrad-Rad und Flaschentrockner. Marcel Duchamp als Bildhauer”, in Kornelia von Berswordt-Wallrabe, ed., Marcel Duchamp. Respirateur, exh. cat. Staatliches Museum Schwerin (Ostfildern, 1995), pp.119-144. (27.8– 19.11.1995).

[9] Pfeifle equates the name “RADO” with the similarly layered liquorice confection “COLOR-RADO” made by a renowned Bonn sweet manufacturer. It is similar in appearance to the layered black and white liquorice “allsorts” familiar to a UK public

[10] Cf. Martin Pfeifle. RADO (as note 1).