[2013]
FINAN
Beatrice Büchsel
Es ist üblich Einführungen zu Kunstwerken in Galerie- und Museumsbesuchen abzuhalten. Das entspricht dem Wunsch, etwas mehr zu erfahren als der spontane Eindruck freilegen kann. Geht es z.B. um die Betrachtung eines mittelalterlichen Werkes, dann sind wir mit einer Vorstellungswelt konfrontiert, die so weit von unserer Wirklichkeit entfernt ist, dass viel Aufarbeitung nötig ist, um sich mit dem Verständnis halbwegs anzunähern.
In der Gegenwartskunst ist das nicht anders und häufig erscheint das Gesehene vor allem rätselhaft. Manchmal ist es aufschlussreich, ein Bildwerk kunstwissenschaftlich zu verorten, die Bezüge zu anderen Künstlern und Kunstrichtungen aufzuweisen und kategoriale Zuordnungen herzustellen. Manchmal steht das Erleben im Zentrum, auf das sprachlich hingewiesen wird. Der Betrachter kann seinen Bildungshorizont erweitern oder die Sammlung seines Erlebens um ein paar weitere Stücke ergänzen.
Ganz allgemein sind Gegenwartskunstwerke wie Kunstwerke früher auch
„… eine empirische, praktische Form der Erkenntnisbildung durch die Herstellung und Wahrnehmung ästhetischer Objekte, die gleichzeitig Metaphern, Modelle und unmittelbarer Ausdruck der Verfeinerung der Wahrnehmung zu einer Form des Wissens und der Erkenntnis an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit innerhalb einer bestimmten Gesellschaft sind.“[i]
Wenn wir von Erkenntnis reden, dann denken wir zuerst an die Wissenschaften. Vielleicht erscheint es uns zweifelhaft, ob Erkenntnis in der Kunst überhaupt eine Rolle spielt. Schließlich zielt wissenschaftliche Erkenntnis auf objektives Wissen ab und Kunst glänzt vor allem durch den subjektiven Gehalt.
Vorauf könnte also Erkenntnis in der Kunst überhaupt abzielen? Mit der Sprache ist es uns möglich, alles, was wir sehen, mit einem Wort zu belegen. Z. B. haben wir das Wort „Baum“ und können damit jederzeit feststellen, dass etwas Gesehenes ein Baum ist. Das lässt sich differenzieren und wir wissen dann, dass wir eine Tanne, Birke oder Eiche sehen. Je genauer wir hinsehen, umso deutlicher wird, dass kein Baum wie ein anderer ist, es also nur Einzelstücke gibt, deren Besonderheiten wir vernachlässigen zugunsten von Verallgemeinerungen Das stört nicht weiter. Eher werden wir nervös, wenn Menschen nichts anderes sind, als das, was allgemein von uns gesagt werden kann, z.B. Steuerzahler, Mieter, Konsumenten, Ehepartner, Homosexuelle, was auch immer. Letztlich weiß jeder, dass er auch noch etwas anderes ist als die Summe verallgemeinerbarer Aussagen. Die Einzigartigkeit eines jeden Menschen wird man wohl kaum als subjektive Spinnerei abtun, vor allem, weil es der menschliche Bereich ist, der sich jeder Bemächtigung durch andere entzieht.
Was ist FINAN? Man kann sich in die Galerie für Kunst und Technik in Schorndorf stellen, mit dem Finger in den Ausstellungsraum zeigen und sagen: „Dieses da“
Als etwa Robert Koch durch das Mikroskop Bakterien entdeckt hatte, musste er schon etwas mehr sagen als „Dieses da“. Wie es bei Entdeckungen meist der Fall ist, weigerten sich die wissenschaftlichen Kollegen anzuerkennen, dass „Dieses da“ Bakterien sein sollen. Nicht viel besser ging es Albert Einstein, der mit der Relativitätstheorie gar nichts mehr aus der Erfahrung aufweisen konnte.
Was ist also FINAN? „Dieses da“ hat Martin Pfleifle hergestellt, also ist es kein unentdecktes Vorkommnis in der Natur. Man kann es dennoch beschreiben und feststellen: Papierbahnen von gleicher Länge hängen von der Decke herunter. Die Decke ist ein Glasfenster, das in etwa einem Satteldach entspricht. Bei dieser Aufhängung reichen die Papierbahnen entsprechend unterschiedlich weit bis zum Boden. Nachgefragt ist zu erfahren, dass es sich bei dem Papier um Kassenrollenpapier handelt. Durch das Licht zeigt sich eine bläuliche Färbung. Im wesentlich ist man hier schon am Ende der Beschreibung. Der erlebbare atmosphärische Eindruck kann sprachlich wiedergegeben werden. So oder so ähnlich würde man als Wissenschaftler herangehen: Ein Phänomen wird entdeckt, beschrieben und in der Wahrnehmung klassifiziert. Wissen wir dann, was FINAN ist?
Bei dieser Herangehensweise unterstellen wir, dass der Betrachter, geistbegabt und intelligent, sich einem Gegenstand zuwendet, der leblose, dumpfe Materie ist. Geist hier, Materie dort ist eines der größten Probleme, die wir uns in unserer abendländischen Kultur eingebrockt haben. Wir sitzen auf einem Zwei-Welten-System, mit zahllosen unangenehmen Konsequenzen in den Wissenschaften.
Welche andere Herangehensweise ist überhaupt möglich? Wir können das Risiko eingehen, Materie als etwas anderes zu erfahren als leblose dumpfe Materie. Dabei geht es nicht darum Materie esoterisch oder creationistisch aufzuladen. Wir können für eine gewisse Zeit unseren Geisthorizont einklammern und uns als die gleiche Materie wahrnehmen, wie das, was wir erfahren. Wir können in FINAN hineingehen, sehen und fühlen noch bevor wir irgendetwas wissen. Die Beziehungen zwischen uns und FINAN kann nur durch den Aufenthalt in FINAN zum Dasein kommen, indem wir Bestandteil von FINAN sind. Wir können erfahren, dass die Trennung von Geist und Materie, Subjekt und Objekt aufhebbar ist. Diese Erfahrung ist tatsächlich eine Erkenntnis, die derzeit nur die Künste zu bieten haben. Darauf im Nachhinein zu reflektieren ist weder ausgeschlossen noch unmöglich. Das allerdings ist dann nicht mehr eine Reflexion, mit der man die nötige Erfahrung im Vorfeld schon zunichte gemacht hat, indem man vorher schon festgelegt hat, was man erfahren soll.
It is common practice to provide introductions to works of art when visiting galleries and museums. This is in line with the desire to learn more than the spontaneous impression can reveal. If, for example, we are looking at a medieval work, we are confronted with a world of ideas that is so far removed from our reality that a great deal of work is needed to come anywhere close to understanding it.
This is no different in contemporary art, and often what we see seems particularly enigmatic. Sometimes it is enlightening to place a work of art in an art-historical context, to show the references to other artists and art movements and to establish categorical classifications. Sometimes the focus is on the experience, which is pointed out linguistically. The viewer can broaden his educational horizons or add a few more pieces to his collection of experiences.
Generally speaking, contemporary artworks, like artworks of the past, are
‘...an empirical, practical form of knowledge formation through the production and perception of aesthetic objects, which are simultaneously metaphors, models and direct expressions of the refinement of perception into a form of knowledge and insight at a specific place and time within a specific society."[i]
When we talk about knowledge, we think first of the sciences. Perhaps it seems doubtful to us whether knowledge plays any role at all in art. After all, scientific knowledge aims at objective knowledge, while art shines above all through subjective content.
What could knowledge in art possibly aim at? With language, we are able to assign a word to everything we see. For example, we have the word ‘tree’ and can use it at any time to determine that something we see is a tree. This can be differentiated and we then know that we are seeing a fir, birch or oak. The closer we look, the more we realise that no two trees are the same, so there are only individual specimens, whose peculiarities we neglect in favour of generalisations. This does not bother us. We tend to get nervous when people are nothing more than what can be said about us in general, e.g. taxpayers, tenants, consumers, spouses, homosexuals, whatever. Ultimately, everyone knows that they are more than the sum of generalisable statements. The uniqueness of each person can hardly be dismissed as a subjective delusion, especially since it is the human realm that eludes any appropriation by others.
What is FINAN? You can stand in the Gallery for Art and Technology in Schorndorf, point to the exhibition room and say: ‘That there’
When Robert Koch discovered bacteria through the microscope, he had to say a little more than ‘this’. As is usually the case with discoveries, his scientific colleagues refused to accept that ‘this’ could be bacteria. Albert Einstein had a similarly difficult time, as his theory of relativity could no longer be proven by experiment.
So what is FINAN? Martin Pfleifle made ‘this’ so it is not an undiscovered occurrence in nature. Nevertheless, it can be described and identified: paper webs of the same length hang down from the ceiling. The ceiling is a glass window that roughly corresponds to a gabled roof. With this suspension, the paper webs reach the floor to different lengths. Upon inquiry, it was learned that the paper was cash register roll paper. The light reveals a bluish tint. In essence, this is already the end of the description. The tangible atmospheric impression can be expressed linguistically. This is more or less how a scientist would approach it: a phenomenon is discovered, described and classified in terms of perception. Does this tell us what FINAN is?
In this approach, we assume that the observer, endowed with a spirit and intelligence, turns to an object that is inanimate, dull matter. Spirit here, matter there is one of the biggest problems we have brought upon ourselves in our Western culture. We are sitting on a two-world system, with countless unpleasant consequences in the sciences.
What other approach is even possible? We can take the risk of experiencing matter as something other than inanimate dull matter. It is not about charging matter esoterically or creationistically. We can bracket our spiritual horizon for a certain time and perceive ourselves as the same matter as that which we experience. We can enter FINAN, see and feel even before we know anything. The relationships between us and FINAN can only come into existence through our being in FINAN, by being a component of FINAN. We can experience that the separation of mind and matter, subject and object, can be suspended. This experience is actually a realisation that currently only the arts have to offer. Reflecting on it afterwards is neither ruled out nor impossible. However, it is no longer a reflection with which one has already negated the necessary experience in advance by determining beforehand what one should experience.
Beatrice Büchsel